Jugend und Gewalt

Jugend und Gewalt
Jugend und Gewalt
 
Ein junger Mann erschießt aus dem Haus der Eltern heraus wahllos Passanten, tötet seine Schwester und dann sich selbst, eine Lehrerin wird vor ihrer Klasse von einem Schüler ermordet — entsetzliche Beispiele aus der jüngsten Zeit, die zeigen, wie drastisch, aber auch wie alltäglich das Problem der Gewalt von Jugendlichen auch in Deutschland geworden ist. In den letzten Jahren ist in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, im Radio und Fernsehen die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen in Deutschland ein immer häufigeres Thema geworden. Zwei Punkte stehen bei der derzeitigen Diskussion im Mittelpunkt: die Verbindung von Gewalt und Rechtsradikalismus sowie die Verbindung von Massenmedien und Gewalt.
 
 Das Ausmaß der Jugendgewalt
 
Die Statistiken zeigen, dass die Kriminalität von Jugendlichen von 1985 bis 1990 gefallen ist (während die Erwachsenenkriminalität stieg), danach aber wieder gestiegen ist. Die Kinderkriminalität (Tatverdächtige unter 14 Jahren) stieg zwischen 1991 und 1996 in allen Bundesländern an, die Zunahme variiert allerdings von 8 % in Bremen bis 406 % in Brandenburg, und generell liegt die Steigerungsrate in den neuen Bundesländern wesentlich höher als in den alten. Eine allgemeine mittelfristige Tendenz ist trotzdem nur schwer auszumachen, zumal die Kriminalitätsstatistiken mit starken Unsicherheitsfaktoren behaftet sind. So führt zum Beispiel die Sensibilisierung für gewisse Arten von Unrecht überhaupt erst zur Möglichkeit der Anzeige und damit der statistischen Erfassung. Gewalt innerhalb der Familie ist dadurch in den letzten Jahrzehnten als Straftatbestand überhaupt erst ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Aus Polizeiberichten und Berichten von Sozialarbeitern, Lehrern etc. lässt sich der Schluss ziehen, dass sowohl quantitativ wie auch qualitativ eine deutliche Zunahme der Gewalt von Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen ist. Die Zahl der alljährlich verurteilten jugendlichen (14—18 Jahre) und heranwachsenden (18—21 Jahre) Straftäter hat Mitte der Neunzigerjahre die Grenze von 100 000 überschritten. Die von der Öffentlichkeit wahrgenommene Steigerung betrifft allerdings nicht nur die wachsende Zahl von Delikten, sondern auch die Schwere der Gewalt. Das früher fast unbekannte Mitführen von Messern durch Kinder unter 14 Jahren beispielsweise ist an vielen Schulen heutzutage gang und gäbe.
 
 Die Struktur der Jugendgewalt
 
Die Opfer von Jugendgewalt sind von Ausnahmen abgesehen ebenfalls Jugendliche. Immer häufiger handelt es sich um ausländische Jugendliche bzw. deutsche Jugendliche mit ausländischer Herkunft oder ausländischer Abstammung. In den meisten Fällen hat Jugendgewalt etwas mit Gruppenverhalten zu tun. In den seltensten Fällen handelt es sich (im Gegensatz zur Gewalt bei Erwachsenen) um reine Einzeltäter, sondern meistens steht zumindest die Identifikation mit einer Gruppe, wenn nicht die Zugehörigkeit, hinter der Tat. Das können organisierte Banden oder Gangs sein, es kann aber auch die Gruppe der Deutschen im Gegensatz zu Ausländern oder der Starken gegenüber den Schwachen sein. Außerdem ist Jugendgewalt ein fast rein männliches Phänomen.
 
 Ursachen
 
Die Ursachen für die gesteigerte Gewaltbereitschaft und -ausübung von Jugendlichen sind komplex. Eine verbreitete Theorie schreibt eine wesentliche Teilschuld den Medien, allen voran dem Fernsehen und Computerspielen, zu. Demnach führt — vereinfacht gesagt — die ständige Konfrontation mit medial vermittelter Gewalt in Verbindung mit der Abwesenheit tatsächlicher Gewalterfahrungen zu einer Verschiebung der Hemmschwelle und generell zu einem veränderten Umgang mit der Realität. Am anfälligsten für solche Veränderungen sind Jungen im Alter von acht bis zwölf Jahren, wissenschaftlich belegt (23 Studien in Deutschland) sind konkrete Auswirkungen des Fernsehkonsums auf die Psyche von Jugendlichen nur im Zusammenhang mit weiteren Faktoren, z. B. bestimmten Gegebenheiten im Elternhaus, Problemen in der Schule etc.
 
Eine weitere wichtige Theorie ist die Desintegrationstheorie nach Heitmeyer, nach der die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen auf Orientierungslosigkeit beruht, die Ursachen also letztendlich gesellschaftlicher Natur sind. Sie erklärt auch die extreme Zunahme der Jugendgewalt in den neuen Ländern und den dort häufig anzutreffenden Zusammenhang mit identifikationsförderndem rechtem Gedankengut.
 
Eine dritte Theorie ordnet die Jugendgewalt in den Zusammenhang männlichen Rollenverhaltens in der Gruppe, wobei jeder positiven Funktion eine negative Variante gegenübersteht, die von Jugendlichen aus verschiedenen Gründen, z. B. zur Profilierung in einer Teilgruppe, ausgelebt werden kann. Insofern würde es sich bei der Jugendgewalt in Deutschland um ein mehr oder weniger normales Phänomen handeln, das in anderer Form auch in anderen Kulturen anzutreffen ist. Dieses Modell bietet allerdings im Gegensatz zu den anderen Modellen kaum Ansatzpunkte für eine Veränderung der Situation.
 
 Gegenmaßnahmen
 
Passend zu den am meisten verbreiteten Theorien zur Jugendgewalt zielt die Prävention vor allem auf Integration. In zahlreichen Projekten wird versucht, Jugendlichen, die Gefahr laufen, marginalisiert zu werden und sich gewaltbereiten Gruppen anzuschließen (arbeitslose, verarmte, bereits straffällig gewordene, drogenabhängige Personen etc.), eine Orientierung zu geben, z. B. durch Einrichtung spezieller Treffpunkte, durch gemeinsame Unternehmungen, Werkstattprojekte, Sportveranstaltungen etc. Vereinzelt ist es auch gelungen, nach begangener Gewalttat Täter und Opfer mit den jeweils im Hintergrund stehenden Gruppen an einen Tisch zu bringen. Häufig merken in solchen Situationen beide Parteien zum ersten Mal, dass sie sich in Wirklichkeit kaum voneinander unterscheiden.
 
Ein zweiter Weg der Vorbeugung betrifft Empfehlungen für die Erziehung von Kindern allgemein und zum Umgang mit Gewalt und mit Medien im Besonderen. Die vom Staat finanziell am stärksten vorangetriebene Maßnahme ist der Bau von Jugendstrafanstalten. Als eines der wirksamsten Mittel gegen das Begehen von Straftaten hat sich die Aussicht des potenziellen Täters herausgestellt, tatsächlich bestraft zu werden, wobei die Schwere der Strafe von zweitrangiger Bedeutung ist. Insofern wäre allein schon eine hohe Aufklärungsrate ein Schritt in Richtung Gewaltvermeidung.
 
 
Retzmann, Edith: Familiäre Interaktion u. delinquentes Verhalten bei Kindern. Köln 1986.
 Ohder, Claudius: Gewalt durch Gruppen Jugendlicher. Berlin 1992.
 Bruns, Bernhard: Hilfen für junge Rechtsbrecher. Münster 1993.
 Nicklas, Hans und Ostermann, Änne: Rechtsextremismus und Jugendgewalt. Analysen u. Präventionsstrategien. Frankfurt am Main 1994
 Wagner, Bernd: Jugend - Gewalt - Szenen. Zu kriminologischen u. historischen Aspekten in Ostdeutschland. Die achtziger u. neunziger Jahre. Berlin 1995.
 
Gewalt im Griff. Neue Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings, herausgegeben von Jens Weidner u. a. Weinheim 1997.
 Nicklas, Hans u. a.: Vaterlos, gottlos, arbeitlos - wertlos? Zum Problem der Jugendgewalt u. mögliche Präventionsstrategien. Frankfurt am Main 1997.
 
Aggression u. Gewalt unter Kindern u. Jugendlichen, herausgegeben von Mechthild Schäfer u. a. Göttingen 1999.
 Velten, Dieter: Gewalt bei Kindern u. Jugendlichen - was tun? Giessen 1999.
 Zirk, Wolfgang: Jugend u. Gewalt. Polizei-, Sozialarbeit u. Jugendhilfe. Stuttgart 1999.

Universal-Lexikon. 2012.

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